Arbeitsfeld Persönlicher Wandel - die Kunst und das unvermeidbare Leid der Entwicklung des Selbst (aktualisiert im März 2012)

 


 


Selbst und Selbstoffenbarung

Der Begriff "Selbstoffenbarung" aus der Kommunikationspsychologie ist, genau genommen, irreführend. Das Selbst offenbart sich nicht in der alltäglichen Interaktion, auch nicht in der Intimität, vielmehr stellt es eine Art Benutzerillusion her, um einmal eine Metapher zu verwenden. Das Selbst erzeugt Bilder in den Augen der anderen wie ein Computer eine sprechende, oft ja auch menschenähnliche Benutzeroberfläche erzeugt, nur viel reichhaltiger und subtiler, und  schöpferisch, das heißt, etwas hervorbringend, das bis vor einer Sekunde nicht gewesen ist und nie genauso jemals da war, das einzigartig ist und eine Bereicherung der Wirklichkeit. Aber es offenbart sich nicht. Das kann es gar nicht, denn das würde Ewigkeiten dauern. Es ist ein Prozess und generiert aus diesem Prozess heraus Momentaufnahmen, die andere, die Interaktionspartner, wahrnehmen und zu einem inneren Bild des Gegenüber ausgestalten. Also keine Angst vor der so genannten Selbstoffenbarung! Es gibt keine Masken, die fallen könnten, weil eben auch das vermeintlich offenbarte Selbst eine Illusion ist. Wir brauchen diese Illusion, um miteinander zu interagieren. Das Selbst aber ist und bleibt unendlich reichhaltiger als jede dieser Momentaufnahmen und Oberflächen. das Selbst zeigt sich nicht, sondern es lässt den Glanz seiner Oberfläche aufblitzen wie einen Sonnenstrahl auf dem Wasser. Es erschafft diese Oberfläche in jeder Sekunde neu. Das Selbst ist der kreative Prozess. Gleichwohl bringt es Strukturen hervor, die bleiben und sich dennoch mitunter auch wandeln. Und um diese tief greifenden Wandlungen geht es hier.

Woher kommt die Erfahrung der Kontinuität und Einzigartigkeit des Selbst? Wahrscheinlich aus der Wahrnehmung des eigenen Körpers, während er mit anderen Menschen und mit Objekten der Außenwelt interagiert. Das Selbst sieht sich, indem es sich in der Situation durch ein Modell abbildet. So kann es sich in seine eigene Vorstellung auf einer inneren Bühne einbeziehen. Das Selbst ist der Akteur auf dieser inneren Bühne, der mich ins Spiel bringt, während ich zuschaue.

Aber was ist, wenn der Akteur, der in meinem Körper steckt, sich grundlegend neu strukturiert? Was ist mit dem zuschauenden Selbst, wenn das betrachtete Selbst sich gerade in seine Einzelteile zerlegt und neu zusammensetzt? Welches Modell habe ich von mir, wenn ich gerade ein neues Modell von mir mache? Und was wird dann gefühlt? Was spielt sich auf der Bühne ab? Vermutlich eine Tragödie oder ein schauriges Spektakel. Und dem Zuschauer kann nicht wohl dabei sein, weil er ja weiß, dass er selbst durch den Akteur auf der Bühne repräsentiert wird. Das ist verstörend.


 

 

Was ich bisher verschwiegen habe, ist, wie entsetzlich der Wandel als Zusammenbruch der Strukturen des Selbst erlebt werden kann. Das innere Erleben des Wandels kann als existenzielle Bedrohung und bevorstehende Vernichtung gesehen werden. Und das Gefühl des Selbstwerts geht vielleicht zeitweise verloren, wenn das Selbst sich neu zusammensetzt. Das Selbst verliert die Achtung vor sich, weil es so nicht mehr sein will und kann. Es findet die Achtung wieder, wenn es anders geworden ist. Dazwischen liegt die dunkle Zone der Verzweiflung. In diesem Prozess ist ein Scheitern nicht nur möglich, es geschieht auch allzu oft.

Wie kommt es dazu? Vielleicht hilft auch hier eine Metapher: Wenn wir ein Haus einrichten und ein bisschen renovieren und in Stand halten, brauchen wir seine Struktur nicht zu verändern und können in ihm wohnen bleiben. Betrachten wir einmal das Selbst als ein Heim, in dem wir hausen, dann bedeutet dies: In dieser Zeit geht es in aller Ruhe voran, das Selbst fühlt sich weiterhin zu Hause. Wenn aber der Fall eintritt, dass das ganze Haus auf den Kopf gestellt werden muss, Wände und Decken herauszunehmen sind, das Dach neu zu gestalten ist, dann würde das Selbst am liebsten für einige Zeit ins Hotel ziehen. Das kann es aber nicht, weil niemand letztlich aus sich selbst ausziehen kann. Also lebt das Selbst Wochen oder Monate auf einer Baustelle und fühlt sich zertrümmert, beschmutzt und wertlos. Bis dann die ersten neuen Räume bezugsfertig sind. Von  da an geht es aufwärts.

Mein Interesse an diesem Thema ist sehr persönlich begründet. Ich habe immer wieder Situationen bearbeiten und bewältigen müssen, auf die ich schlecht vorbereitet war. Und ich habe das Wichtigste allein tun müssen. Auch heute mache ich vieles, was ich zustande bringe, selbst und allein. Ich arbeite auch sehr gern im Team. Aber etwas in mir zieht mich weg aus allen Teams und fordert mich auf, etwas zu tun, was andere nicht tun und Teams nicht können. Ich habe miterleben dürfen, wie einige Menschen in extremen Situationen über sich hinauswuchsen und selbstständig mit den größten Bedrohungen fertig wurden, während andere – aus weitaus günstigeren Positionen heraus – versuchten, ihre Schwierigkeiten abzuwälzen und Mitleid zu erwecken oder sich kleine Vorteile zu verschaffen. Und doch, auch allein und eigenverantwortlich handelnd und etwas Neues hervorbringend, bin ich umgeben von einem Netz fördernder Menschen, mit denen meine Handlungen und mein Geist verwoben sind. Niemand steckt in meiner Haut, das ist die Garantie für meine Einzigartigkeit. Niemand hat meinen Körper, das ist der Grund für die Kontinuität meines Selbst. Also ist der Akteur auf meiner inneren Bühne, der mich darstellt, nicht austauschbar. Etwas an ihm wandelt sich niemals. Merkwürdig: Ich finde auf Kinderfotos von mir einen Menschen, der anders aussieht als ich, klar, aber der die gleichen Gesten ausführt, dasselbe Lächeln lächelt (wenn auch vielleicht nicht ganz mit den selben Zähnen). Hat das nicht auch etwas Beruhigendes?

Der Mensch durchlebt in Phasen des strukturellen Wandels eine Krise, die ihm zeigt, dass der Wandlungsprozess des Selbst sehr schmerzhaft sein kann. Aber schlimmer wäre es, ihn zu umgehen. Das Selbst befindet sich in einem inneren Konflikt, den es durch äußere Veränderungen selbst mit herbei geführt hat. Und in Bewegung gerät der Wandel durch den Körper oder besser gesagt: durch den Leib, der mit der Seele untrennbar verbunden ist und eine Umstrukturierung in einem Prozess erzwingt, den das Selbst vielleicht als tiefsten seelischen Konflikt seines Lebens wahrnimmt. Das Selbst begreift, wie abhängig wir Menschen voneinander sind; und dass Autonomie ihre Grenzen hat. Es begreift, dass andere Menschen für es da sind, mit denen es gar nicht gerechnet hat. Und dass dieses Rechnen nie aufgeht. Und es begreift, dass vieles von dem, was es gelernt hat zu sein, nicht mehr zu dem passt, was es heute ist. So streift das Selbst seine Vergangenheit ab und schafft sich  neu und holt sich dabei Hilfe bei anderen Menschen, wo sie erforderlich ist. Und wenn der Mensch und die Menschen es nicht dabei unterstützen, gibt es seinen so genannten Körper, also die physische Existenz, auf. Jedenfalls scheint dem Selbst das die Botschaft zu sein: Werde oder geh zugrunde! Aber es gibt auch unvorstellbar schöne Erfahrungen in diesem Prozess. Dazu einige kleine, vielleicht banale Geschichten:


Geschichten zur Beeinflussung des Fühlens durch das Denken

Das Denken beeinflusst unser Erleben und unsere Gefühle, und das Selbst kann lernen, seine eigenen Gedanken zu beeinflussen - und damit auch seine Gefühle. In der zweiten Geschichte bewirkt das Denken auch eine Veränderung des Handelns und dadurch des Erlebens.

Müde, voller Angst und tief deprimiert schleppe ich mich in mein Hallenbad, um meine Standardstrecke abzuschwimmen. Dort tobt gerade im anderen Becken ein Wettkampf. Schon von weitem wird mir von all dem Lärm, dem Getrommel und Tuten und Pfeifen, schlecht. Trotzdem wage ich mich ins Wasser und schwimme los. Und da passiert es. Mein Selbst stellt sich einfach vor, die würden alle mich anfeuern, ja mich. "Schwimm durch deine Angst hindurch!" brüllen sie mir zu und treiben mich mit ihren Trommeln an. Und ich schwimme immer kraftvoller und fühle mich zusehends stärker...

Wenn ich abends noch einen Spaziergang mache, komme ich an einem Haus vorbei, das von zwei großen Schäferhunden bewacht wird, die sich hinter einem geschlossenen Tor befinden. Laut bellend stürzen sie sich auf das Tor, wenn ich vorbeikomme. Ich habe Angst und erlebe das als sehr feindselig, mache am liebsten einen Bogen um diese Situation. Eines Tages aber nehme ich all meinen Mut zusammen, gehe zum Tor, während die Hunde mich anknurren und bellen, und klingle. Es kommt jemand. Ich stelle mich vor und sage, dass ich im Haus gegenüber wohne und die Bewohner und die Hunde gern einmal kennen lernen möchte. Es endet damit, dass ich erlebe, wie die Hunde bei geöffnetem Tor um mich herum laufen und ganz zahm sind. Ich habe Bekanntschaft geschlossen. Und freue mich, die Angst ist weg.

Ich hatte vor einigen Jahren eine Zeitlang Angst davor, im Dunkeln spazieren zu gehen, obwohl es mich auch reizte. Eines Abends wagte ich mich bis an einen kleinen aber ziemlich lautstarken Bach. Das Rauschen in Verbindung mit meiner lauten Stimme (Ich telefonierte mit dem Handy) und dem sanften Opal des Mondes bewirkten bei mir ein ästhetisches Wohlgefühl. Seitdem brenne ich darauf, dass es endlich dunkel wird und ich an meinen Bach - und von ihm aus über die Brücke in die nächtliche Welt hinaus - gehen kann. Ich habe mir ein Stück Welt angeeignet. 

Ich kenne Leute, die mir Angst vor Gerüchten machen wollen, die über mich verbreitet werden. Jedenfalls rede ich mir das ein, aber für mich ist es real, ob es solche Leute nun gibt oder nicht. Gerüchte, sage ich mir, sind wie die Nebelschwaden, die sich im Winter vor meinem Mund bilden, wenn ich ausatme. Ich bin, ich atme, und schon gibt es Gerüchte über mich. Gerüchte sind da, aber sie sind Gerüchte, nicht mehr, sozusagen Gespensterrealität, und genauso fragil. Vielleicht sollte ich mich an ihren bizarren Formen erfreuen; ja, das werde ich. Also bitte, verbreitet Gerüchte über mich. Oder lasst es bleiben. Einerlei.


Das kann man jetzt "Reframing" nennen oder "Umdeutung" oder sonst wie, entscheidend ist, es klappt. Und: Es kommt von innen heraus, ganz von allein. Ich setze hier keine Technik ein, sondern überlasse mich der Situation und dem Streben danach, mich wieder wohl und frei zu fühlen. 

Ich hatte lange Jahre weder Hilfskräfte noch Mitarbeiter, an die ich Aufgaben delegieren könnte. Außerdem sehe ich mich selbst weder als  besonders geschickt, noch als besonders fleißig, noch als körperlich besonders robust und halte mich auch nicht für ein Genie.  Trotzdem ist es mir irgendwie gelungen, Lebensaufgaben zu bewältigen, an denen ich nach allen Regeln meiner persönlichen Vernunft hätte scheitern müssen. Wie habe ich das geschafft? Eine Erklärung lautet: Ich habe Methoden der Selbstveränderung entwickelt, die es mir ermöglicht haben, zu überleben und manchmal sogar aktiv in sehr komplexe Prozesse einzugreifen. In einigen Fällen habe ich dadurch mehr erreicht, als Klügere mit ihren taktischen Tricks und Mächtigere mit ihren Machtstrategien. Zu diesen Methoden gehören Formen der Autosuggestion, der Selbststeuerung und der Selbsterziehung. Auch das Prinzip des "Ja zum Werden" gehört dazu. Damit ist gemeint: Ich lebe heute, meiner Vergangenheit weine ich keine Träne nach (die nicht in der Gegenwart fließt, also mich in der Gegenwart festhält), und ich will auch nicht zurück.

Aber da ist noch mehr, eine intuitive Vorwegnahme von Möglichkeiten, die in der Zukunft liegen und denen ich mich nicht kalkulierend, sondern eher ahnend und schätzend zuwende. Und das Selbst geht manchmal hohe Risiken ein, die es dann an den Rand des ihm Möglichen führen, so dass es sich vor die Wahl stellt: Ändere dich, bau dich um, oder du gehst kaputt! Dabei meint es das meistens wohl eher metaphorisch, aber es fühlt sich massiv bedroht (was es insofern auch ist, als es vergeht und neu wird, so etwa wie eine Staude im Winter abstirbt, um im Frühjahr neu auszutreiben).

Zur Theorie der Entwicklung des Selbst haben Psychologen und Pädagogen einiges beigetragen. Besonders beeindruckt hat mich die Theorie C. G. Jungs über die zweite Lebenshälfte. Jung vermutet, dass Menschen in der zweiten Lebenshälfte die Entstehung eines unverwechselbaren Selbst in den Mittelpunkt stellen, das heißt, Individuierung im Sinne von werdender Einzigartigkeit geschieht vor allem in der zweiten Lebenshälfte, während die erste Lebenshälfte von Anpassung an die Gesellschaft geprägt ist. Ein brillanter Experte des persönlichen Wandels aus meiner Sicht ist Steve de Shazer, dessen Buch "Der Dreh" ich persönlich sehr viel verdanke. Auch der Klassiker einer Theorie des Wandels zweiter Ordnung, das Buch von Watzlawick/Weakland/Fish über "Lösungen", ist eine Fundgrube von Anregungen zum Thema Wandel. Und die neuen Arbeiten von Seligman spüren einer Frage nach, die für das Selbst zu den entscheidenden gehört. Empirisch sorgfältig fundiert und dabei faszinierend und inspirierend ist die Theorie der Selbstwirksamkeit von Bandura, vor allem deswegen, weil die Wirksamkeit des Selbst im Umgang mit sich selbst ins Blickfeld gerückt wird. Gleichwohl, alle modernen Autoren, die ich bisher ausfindig machen konnte, haben sich nur am Rande mit der Selbstveränderung beschäftigt. Denn dabei geht es um die Frage, wie das Selbst den Wandel seiner selbst bewerkstelligt, also als Akteur auf einer Bühne auftritt, auf der ein Stück gespielt wird, das den Hauptdarsteller auswechselt, während der gleichzeitig im Zuschauerraum sitzt. Im Hinblick darauf hatten Bildungstheoretiker wie Platon, Seneca und Thomas von Aquin bereits Einsichten gewonnen, hinter denen etliche moderne Konzepte der Sozialisationsforschung wieder zurückgefallen sind. Das geglückte Leben eines mit sich einigen und zugleich streitlustig entzweiten Selbst ist nicht unbedingt der Hit der Moderne. Aber wenn dieses Ideal aus dem Blick gerät, wird das Thema "persönliche Entwicklung" seltsam blass. 

Leitbegriffe und Maximen aus der griechischen Philosophie sind für mich eine wichtige Orientierungshilfe: "Werde, der du bist!" oder das Ideal der Kallokagathia (Schönheit und Tugend vereint) geben auf wundersam auslegungsbedürftige und vertrackt offene Weise die Richtung an. Du musst selbst herausfinden, wer du bist - und es werden musst du auch selbst, das nimmt dir keiner ab.

Selbstveränderung ist ein Feld, das ich für mich abgesteckt habe und in den nächsten Jahren bearbeiten werde - und dabei werde ich mich weit aus den angestammten Disziplinen Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie herauswagen müssen. Ein erster Schritt besteht darin, Methoden und Strategien der Selbstveränderung zu sammeln und zu dokumentieren. Hierzu gehören Autosuggestion, self-coaching und Selbstkonfrontation, aber auch Selbstoffenbarung. Für professionelles Handeln heißt das: Paradoxerweise wird eine professionelle Verständigungsbasis mit Klienten oft erst gefunden, wenn die professionelle Maske für einen Sekundenbruchteil durchsichtig wird, wenn etwas durchscheint von dem, was den Klienten mit dem Ratgeber, den Lernenden mit dem Lehrenden verbindet. 


Wider die Orientierung an wissenschaftlichen Disziplinen

Der persönliche Wandel ist ein Querschnittsthema und lässt sich weder von der Psychologie noch von der Pädagogik noch überhaupt von den Geistes- und Humanwissenschaften vereinnahmen. Naturwissenschaftliche Denkmodelle, etwa aus der Chaos-Theorie oder der Evolutionslehre, haben ebenso ihre Berechtigung wie didaktische Theorien oder tiefenpsychologische Konstrukte. Auch die Neurowissenschaften leisten einen rapide wachsenden Beitrag zur Klärung des Selbst. Im Zentrum steht die Frage, nicht die wissenschaftliche Disziplin der Fragesteller. Es gibt etwas, dass psychologische Berater, Therapeuten, Pädagogen, viele Philosophen, Experten für Coaching, Erzieher und bestimmte Teilgruppen von Sozialwissenschaftlern gemeinsam haben: Sie sind allesamt damit beschäftigt, den persönlichen Wandel zu unterstützen. Dazu sollten sie etwas über den Wandel wissen. Und das ist ein transdisziplinäres Thema.  

Wider die Therapeutisierung der Gesellschaft

Die Entwicklung des Selbst wird oft als Domäne professioneller Berater und Therapeuten angesehen. Für mich stellen Berater und Therapeuten einen Sonderfall den Wandel begleitender Stützsysteme dar. Ihre Effektivität und Effizienz im Vergleich zu anderen den Wandel fördernden Prozessen, Maßnahmen und Berufsrollen ist ungeklärt. Allerdings glaube ich schon, dass externe Unterstützung bei Veränderungsprozessen oft eine große Hilfe darstellt. Das aktuelle Konzept des Coaching scheint dieser offeneren Sicht auf das Management des persönlichen Wandels Rechnung zu tragen. Aber die wichtigste Unterstützung bekommt das mit sich um den Wandel ringende Selbst von Menschen, die ihm etwas bedeuten. Und manchmal auch von uninteressiert scheinenden Mitmenschen, die gerade bereit sind, das Richtige zu tun, weil das eine Aufgabe ist, die sie sich selbst stellen. Menschen helfen Menschen, auch in der Krise des Selbst, weil dieses Selbst weit über die Körpergrenzen hinausreicht. 


Seelisch oder körperlich?

Das Selbst bildet eine leib-seelische Einheit, die den Körper anschließt, aber nicht vollständig einschließt. Zum Selbst gehört der durch Erfahrung und Lernprozesse geformte und strukturierte Körper, der Körper, der erfahren hat, was ihm gut tut und was ihm schadet, der Körper, der unzählige Male bestimmte Situationen mit Bewegungsabfolgen bewältigt und bestimmte Speisen zerlegt hat. Dieser Körper wird im Geist als Modell repräsentiert und so als Selbst erkannt. Nicht zum Selbst gehört der Körper auf der Ebene der Moleküle, die eine Zelle bilden. Die können verloren gehen und rasch ersetzt werden, wenn die Information zur Verfügung steht. Sehr wohl zum (impliziten) Selbst gehören aber die Baupläne, die dafür sorgen, dass der Körper erhalten bleibt. Der Körper speichert gewaltige Mengen an Informationen, auf die das Selbst einen eingeschränkten Zugriff hat. Und der Körper ist nicht mit jedem Selbst(entwurf) kompatibel. Er setzt sich zur Wehr, wenn Teile des Selbst ihm etwas abverlangen, worauf er nicht eingestellt ist oder wofür er nicht geeignet ist. Dann kracht es auf der inneren Bühne. Das Selbst fühlt sich stimmig und mit dem Körper eins, wenn es so lebt, wie es seiner körperlichen Verfassung und seinen besonderen Fähigkeiten und Eigenarten entspricht. Was geschieht nun in der Wandlungsepisode? Auch die Wandlung kann durchaus vom Körper ausgehen, sie kann aber auch von Gefühlen, Empfindungen oder geistigen Prozessen ausgehen. Beteiligt sind auf jeden Fall alle Ebenen. Widerstand von Seiten des Körpers kann als "Funktionsstörung" erlebt werden und als Krankheit bezeichnet werden.  Umgekehrt können physische Erkrankungen (etwa durch ein Virus) als seelisch bedingt wahrgenommen werden, beispielsweise können Schmerzen als verdiente Strafe interpretiert werden, obwohl sie durch eine virusbedingte Entzündung hervorgerufen wurden. Wem kann man da noch trauen? Die Antwort lautet: Am Ende sich selbst und davor auch anderen Menschen, die helfen, eine organische Erkrankung von einer Wandlung in der Krise zu unterscheiden. Die "Symptome" können dabei gleich sein. Unter Umständen braucht man objektivierende Verfahren (Tests), um die Unterscheidung zwischen "körperlich bedingt" und "seelisch bedingt" treffen zu können. Der Wandel in der Krise selbst aber ist keine Krankheit, er kann jedoch so erscheinen. 

Für ein realistisches, praxisnahes, personbezogenes Modell des Wandels

Die meisten Modelle des Lernens und der persönlichen Entwicklung sind immer noch einfache Kausalmodelle, die mit externen Faktoren als unabhängigen Variablen und Denk- und Verhaltensänderungen als abhängigen Variablen arbeiten. Nur wenige Modelle berücksichtigen die Perspektive der persönlichen Strukturgenese. Das von mir skizzierte Modell des persönlichen Wandels sieht derzeit (März 2012) etwa so aus:

Bestimmte Auslöserereignisse irritieren und verstören das Subjekt - den Träger der Veränderung - und werden als Bedrohung, schwierige Aufgabe oder Herausforderung interpretiert. Begleitemotionen dieses Prozesses sind oft Angst, Schuldgefühle und Zorn. Auf die konstruktive Rolle von "negativen" Emotionen wie Schuldgefühlen für Lernprozesse haben  Motivationspsychologen verschiedentlich hingewiesen. Auch der Widerstand gegen Verbote, selbst Enttäuschungen und Verluste können dabei eine wichtige konstruktive Rolle spielen. Persönlicher Wandel ist nicht unbedingt bequem. Das Subjekt strukturiert sich selbst um, orientiert sich neu und präsentiert sich anderen in sozialen Situationen ebenfalls auf neuartige Weise. Möglicherweise wird mit mehreren Entwürfen des Selbst experimentiert. Auch diese Umstrukturierung wird auf der inneren Bühne abgebildet, modelliert. Das ist mentale Schwerstarbeit, aber es geschieht. Oft wird in dieser Phase provozierend oder aggressiv gehandelt, das Subjekt arbeitet an den Grenzen, die es sich selbst gesetzt hat oder die von anderen gezogen werden. Und es geht so weit, seine physische Existenz in Frage zu stellen. Wenn es noch eine Wahl gibt, dann die zwischen Entwicklung und Verlöschen. Das Infragestellen der körperlichen Existenz ist konsequent, denn das Selbst ruht in der Existenz des Körpers, es ist durch das Leben des Körpers garantiert. Auch seine Einzigartigkeit beruht auf der Einzigartigkeit des Körpers. Lehnt das Selbst sich in seiner Einzigartigkeit und Identität rundweg ab, muss es auch seine körperliche Existenz ablehnen. Es wünscht sich den Tod. Das ist konsequent. Eine Lösung dieser existenziellen Krise besteht darin, ein anderer im eigenen Körper zu werden. 

In dieser Phase der Neustrukturierung sind, wenn das Selbst einen Weg findet, Neugier und Lernbereitschaft immens gesteigert. Das Selbst eignet sich Inhalte und Kompetenzen in sehr kurzer Zeit an und ist bereit, sehr viel Zeit und Energie in entsprechende Lernphasen zu investieren. Fremdsprachen, mathematische oder naturwissenschaftliche Kenntnisse, kulturwissenschaftliche Kompetenzen und praktische Fertigkeiten werden neu hinzugewonnen oder gesteigert. Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Ansprüche an die eigene Person und an die Lebens- und Arbeitsumgebung werden neu gesetzt und nach außen deutlich sichtbar vorgetragen. Das Selbst wird dabei zum Manager seines eigenen Wandels. Es steuert diese Prozesse von einer Metaebene aus, die außer Theorien und Konzepten auch Bilder, Wünsche und Träume verarbeitet. Aber es gibt vermutlich neben diesen sprungartigen Veränderungen auch langfristige kumulative Prozesse, die Voraussetzungen für den gelungenen Wandel sind, lange Phasen des systematischen Lernens und Übens, des Ringens, Suchens, der Erwartung und Sehnsucht. Dafür sind möglicherweise Institutionen eine große Hilfe, auch dann, wenn das Selbst sich mit ihnen anlegt. Ein faszinierendes Kapitel stellt in diesem Zusammenhang die Geschichte der Bildungsinstitutionen und ihre jeweilige Beziehung zum subjektiven Wandel dar. Das Selbst profitiert enorm von institutioneller Bildung, auch wenn es sich gegen sie wendet. Aber es kann auch zerbrechen, wenn die Institutionen ihm nicht genügend Raum lassen. 

Symbole des Wandels

In der Wandlungsphase erschließt sich das Selbst seine eigene Situation und den Prozess durch Symbole. Ein mächtiges Wandlungssymbol ist der Tod. Denn der Tod steht für die Tatsache, dass etwas für immer vorüber ist, Vergangenheit geworden ist, und dass ein Neuanfang stattfindet. Spielerisch identifiziert sich das Selbst möglicherweise mit dem Tod, nicht als Wesen, das sich oder andere physisch bedroht, sondern als Vollstrecker der Zerstörung des Alten, der alten Struktur, die es überwinden will. Die Angst vor dieser Zerstörung wird verschwinden, sobald sie bejaht und der Abbau offen in Angriff genommen wird. Andere Symbole sind mythische Wesen wie Drachen oder Engel und Teufel. Oder eben, wie oben, Fenster, in denen sich das Himmelsblau spiegelt; oder beispielsweise Häuser, die einstürzen, hinaufragen oder sich öffnen. Symbole für das Selbst sind beispielsweise der kosmische Mensch oder der weise Alte oder Göttergestalten. Ich sehe solche Symbole als analoge Formen der Modellierung einer brisanten Interaktion zwischen Selbst und Außenwelt an. Da der Körper Träger des Selbst ist, bietet sich das Bodypainting als Möglichkeit der kreativen Symbolisierung der Interaktion zwischen Selbst und Umwelt an. In diesem Fall wird der Körper selbst zur Leinwand, die von dem gestaltet wird, der dargestellt wird. Und oft nur von dem betrachtet wird, der das dreidimensionale pulsierende Bild gestaltet hat. 

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Der Tod als Symbol des Wandels. Was stirbt, sind die alten Strukturen, in denen der Mensch lebt, nicht er selbst. Das Bodypainting symbolisiert die Identifikation des Selbst mit dieser schwierigen Aufgabe. 

 

 

 

 

 

Der kosmische Mensch, hier auf einem Bild von Roger Lips, ist ein Symbol für das universelle Selbst, für den Teil des Selbst, der uns mit allen Menschen verbindet, also unseren humanen Kern. In unserem Körper steckt ja mehr als das persönliche Selbst, in ihm steckt das kollektive Selbst unserer Gattung. Was kennzeichnet sie? Ihre unglaubliche Anpassungsfähigkeit, aber auch etwas Unklares, Unfertiges, die nur teilweise vollzogene Integration komplexer kognitiver Funktionen, elementarer Emotionen und eines fragilen Körpers, dessen Überleben an einigen seidenen Fäden hängt, während sein Bewusstsein sich vom Gegenteil zu überzeugen versucht, von Kontinuität und Sicherheit.

 


 

 

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Und wofür steht dieses Symbol? 

 


Struktur und Prozess

Das Selbst ist ein kreativer Prozess, der sich freilich auch auf bestimmte Strukturen, die Ergebnisse vergangener kreativer Prozesse sind, stützt und verlässt. Diese Strukturen stützen das Selbst und geben ihm Halt. Sie können aber zu Gitterstäben eines Käfigs werden, in dem das Selbst sich eines Tages gefangen fühlt. In dieser Lage gibt es zwei (oder auch mehr) Möglichkeiten: Entweder entwischt das Selbst durch die Gitterstäbe und schafft sich neue - dann eben weitere Strukturen - oder es bleibt im Käfig und büßt seine Lebendigkeit ein. Es siecht dahin. In manchen Fällen muss das Selbst die Stäbe auch auseinander biegen oder zerbrechen. Bleibt es im Käfig, wirkt es auf andere Menschen deprimiert und mutlos. Bricht es aus und durch, wirkt es möglicherweise verwirrt oder ungeordnet, zumindest so lange, bis es sich neue Strukturen geschaffen hat. Zu den wichtigsten Strukturen gehören verlässliche soziale Beziehungen, aber auch Räume, in denen das Selbst gern haust und sich wohl fühlt. Und selbstverständlich gehören auch vertraute und eingeschliffene Handlungsmuster dazu. In einer sozial und geographisch sehr mobilen Gesellschaft werden diese Strukturen gewiss häufiger unpassend als in statischen Gesellschaften.

Scheitern

Riskante Prozesse wie der einer von innen und außen angeregten Entwicklung des Selbst können scheitern. Das geschieht leider viel zu oft. Burnout beispielsweise kann als ein Ergebnis dieses Scheiterns in der beruflichen Sphäre interpretiert werden. Für mich ist Burnout eine Herausforderung, der wir als Pädagogen uns stellen müssen. Ich kann fast von einer Art Intimfeind sprechen: Burnout ist für mich das Ungeheuer, mit dem ich kämpfe. 

Aber natürlich ist Burnout auch ein wissenschaftlich inzwischen gut erforschtes Phänomen. Mehr dazu in der folgenden Präsentation: 

Burnout.Ausgangslage

Wege zum Glück

Der Weg durch die Krise kann durchaus zu dauerhaftem Wohlbefinden führen und als Bereicherung erlebt werden. Mehr über das Thema Glück auf meiner Seite zur empirischen Glücksforschung.


 

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