Factfulness

"Der Instinkt der Angst ist ein furchtbarer Ratgeber, wenn es darum geht, die Welt zu verstehen." (Rosling 2018, 151)

Das Wort factfulness gibt es in den meisten Wörterbüchern noch nicht. Man versteht darunter ein faktenbasiertes Verständnis der Welt. Das Wort wurde bekannt durch das großartige Buch von Hans Rosling*. Schon vor vielen Jahren fiel mir auf, dass Berichte in den Medien einschließlich Tagesschau und heute über Ergebnisse der Bildungsforschung nicht mit den mir bekannten Fakten übereinstimmten. Ich führte dies darauf zurück, dass die Journalisten schlampig recherchiert hätten, nicht viel von Statistik verstünden usw.... Dank Rosling habe ich jetzt eine bessere Erklärung für die verzerrte Darstellung der Welt durch die Medien und durch Politiker und Meinungsführer. Und durch jeden von uns. Wir sind auch nicht besser. Es ist menschlich, die Fakten zu verleugnen.

Zunächst ist da die Tendenz unseres Gehirns, die Welt in zwei Teile zu zerlegen, die Neigung zu Dichotomien: arm und reich, Arbeiter und Akademiker, gebildet und ungebildet, männlich und weiblich usf. Findet man Unterschiede zwischen den beiden Gruppen im Mittel, werden diese Unterschiede zu gravierenden Unterschieden aufgeblasen, ohne das die Verteilung aller Werte in den beiden Gruppen untersucht wird. Oft zeigt sich nämlich, dass die Verteilungen sich zu 90 % überlappen. Das bedeutet, dass die Unterschiede zwischen den Mittelwerten für die meisten Menschen keine praktische Bedeutung haben. Aber es gefällt unserem Gehirn, die Dinge anders zu sehen. Begriffe wie "Zweiklassenmedizin" bedienen unsere Neigung zu dichotomisieren. Tatsächlich sind die Unterschiede in der medizinischen Versorgung zwischen den Patientengruppen für die meisten Menschen praktisch bedeutungslos. 

Dann gibt es die Tendenz, das Schreckliche in den Vordergrund zu stellen, beispielsweise die Meldung, dass 8 % der Jugendlichen keinen Schulabschluss haben. Dass 92 % einen haben, ist weniger interessant. Oder dass 10 % an der Armutsgrenze leben, ist hochspannend, die 90 %, die nicht arm sind, erscheinen uns eher langweilig. Obwohl es zu deren Lebenswirklichkeit gehört, nicht arm zu sein. 6,5 % Arbeitslose sind wichtiger als 93,5 % Beschäftigte. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich wünsche mir Vollbeschäftigung und weiß um die Risiken, die mit Arbeitslosigkeit verbunden sind. Aber die Gesellschaft ist nicht dadurch charakterisiert, dass 6,5 % keine Arbeit haben, sondern dadurch, dass mehr als 90 % arbeiten und Geld verdienen.

Lange Zeit wurde immer wieder gemeldet, die soziale Herkunft sei entscheidend für den Bildungserfolg. Tatsächlich aber lassen sich in Deutschland nur 10 bis 20 % der Unterschiede beim Bildungserfolg auf die soziale Herkunft zurückführen. Andere Länder wie Japan, Kanada oder Hongkong schneiden dabei deutlich besser ab, dort spielt die soziale Herkunft kaum noch eine messbare Rolle. Andere Faktoren wie beispielsweise die Intelligenz sind jedoch allgemein und auch in Deutschland wichtiger. Warum interessiert uns die soziale Herkunft mehr als die Intelligenz? Weil es ein Skandal ist, dass sie eine Rolle spielt, wenn auch nur eine geringe bis mittelstarke. Und wir finden den Skandal interessanter als die Tatsache, dass die Intelligenz besonders wichtig für den Bildungserfolg ist. Oder die Tatsache, dass Bildungserfolg zu 80 % von anderen Faktoren als der Herkunft abhängt. Wir haben eben eine Vorliebe für Klatsch und Tratsch, auch beim Genuss der Tagesschau. Und die Macher der Tagesschau und vieler anderer Medien bedienen unsere Begeisterung für Klatsch und Tratsch, für den Skandal. Das ist nett von ihnen, weniger nett ist, dass sie dabei den wichtigeren Teil der Fakten oft unter den Tisch fallen lassen. Jeden Tag berichten sie über Terroranschläge und zeigen uns Opfer; haben sie je darüber berichtet, dass die Zahl der Terroropfer in unserer Region seit vielen Jahren rückläufig ist? Ein Diktator hat angeblich Zivilisten mit Giftgas angegriffen, wobei 40 Menschen gestorben sind, darunter Kinder, angeblich. Und schon regnet es Sondersendungen über Giftgasattacken und Vergeltungsschläge. Niemand jedoch kennt die Fakten. Ist auch nicht wichtig, wichtig ist der Skandal.

Aber es ist so wichtig für unser Gehirn, die Welt in zwei Hälften zu teilen: dort der böse Dikator mit dem Gift, hier "der Westen", moralisch einwandfrei. Auch so eine irreführende Dichotomie: West und Ost, oder: Entwicklungsland und reiches Land, Islam und Christentum. Ich habe nun diese Seite meiner Website hinzugefügt, um einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, eine faktenbasierte Weltsicht zu fördern. Einen winzigen Beitrag, ich weiß. Aber einer der Gründe, warum ich überhaupt Wissenschaftler geworden bin, war die Beobachtung, dass wir alle oft urteilen, ohne die Fakten zu berücksichtigen. Als junger Homosexueller habe ich lernen müssen, Theorien zu misstrauen, die nicht evidenzbasiert sind (zum Beispiel: Eine Abschaffung des Verbots der Homosexualität führt dazu, dass die Gesellschaft ausstirbt.). Heute glauben nur noch einige Fanatiker an den Unsinn von damals. Dafür glauben wir allzu oft an den Unsinn von heute. Noch so eine Tendenz unseres Gehirns: An Bildern festzuhalten, die vor 50 Jahren mal realistisch waren.

"Es ist offenkundig, dass freie Medien kein Garant dafür sind, dass über umwälzende kulturelle Veränderungen berichtet wird." ( Rosling 2018, 231)

Der Iran hat den schnellsten Rückgang der Kinderzahl pro Frau in der Weltgeschichte aufzuweisen. 1984 lag die Zahl noch bei mehr als sechs Kindern pro Frau, heute beträgt sie 1,6 Kinder pro Frau. Über diese erstaunliche Entwicklung hat keines der freien westlichen Medien je berichtet. Auch nicht über die Methoden, die im Iran dazu geführt haben. Die Medien berichten viel über den Iran. Vor allem berichten sie über das, was den USA am Iran missfällt. Aber sind diese Dinge tatsächlich so wichtig, um den Iran realistisch zu sehen? Allgemein wird viel über den angeblichen Zusammenhang zwischen Religion und Kinderzahl spekuliert, tatsächlich ist dieser Zusammenhang sehr schwach, viel wichtiger sind das Einkommensniveau und die Kindersterblichkeit. Wo die Sterblichkeit (noch) hoch ist, werden auch mehr Kinder geboren. Allgemein pendelt sich übrigens die Kinderzahl fast überall in der Welt auf zwei je Familie ein, unabhängig von Kultur und Religion. Wussten Sie das? Ich nicht.

"Sie sind nicht arm, nicht reich, sondern irgendwo in der Mitte..." (Rosling 2018, 41)

Ich habe seit einiger Zeit mit der deutschen Botschaft in einem südostasiatischen Land mit etwa 100 Millionen Einwohnern zu tun. Wirtschaftlich befindet sich das Land an der Schwelle zum Übergang von Einkommensniveau 2 zu 3 (von insgesamt 4 Stufen) nach Rosling. Es ist also kein "armes" Land mehr. Aus der Korrespondenz mit der Botschaft und aus Berichten von Freunden, die dort leben und Interviews in der Botschaft hatten, schließe ich, dass die Botschaftsangehörigen und vermutlich auch ihr Chef ihre Informationen nicht aus unabhängigen Quellen beziehen, sondern sich ihr Bild von dem Land, in dem sie arbeiten und Deutschland vertreten sollen, aufgrund von "westlichen Medien" und basierend auf  Stereotypen machen, deren empirische Grundlage längst veraltet ist. So bezeichnen sie erfolgreiche Studenten in der Korrespondenz mit mir als "Arbeitslose", was sachlich und juristisch falsch ist und sehr viel über ihre Einstellung zu diesen klugen jungen Leuten verrät, aber nichts über die aktuelle Lebenswirklichkeit an Hochschulen in Südostasien und auch nichts über die Kompetenzen und Einstellungen der Studierenden dort.  Statt ihnen Besuchsmöglichkeiten für den Wissensaustausch in Deutschland zu eröffnen, verdächtigen Botschaftsangestellte Studierende pauschal, im Anschluss an eine Besuchsreise ohne Aufenthaltstitel im goldenen Westen bleiben zu wollen. Diese Mischung aus Ignoranz und  Respektlosigkeit führe ich auch auf mangelndes Faktenwissen zurück. Ich schäme mich, ehrlich gesagt, für unsere Botschaft in dem betreffenden Land. Und ich bitte meine Freunde dort um Entschuldigung für die Ignoranz deutscher Staatsdiener vor Ort. Ich habe in der Statistik bisher keine erfolgreichen Studenten aus diesem Land gefunden, die sich illegal in Deutschland aufhalten, nachdem sie mit einem gültigen Visum eingereist waren. Wer ein faktenbasiertes Bild von der Wirklichkeit in der Welt heute hat, sollte davon ausgehen, dass sich die Gewichte im weltweiten Handel, in der Produktion und beim Konsum gerade gewaltig verschieben, und zwar in Richtung Asien. Man muss nicht nach Europa oder in die USA auswandern, um ein besseres Leben zu finden, man kann einfach in Asien bleiben. Asien kann sehr gut auch ohne Europa glücklich werden, was es, wie ich hoffe, aber dann doch nicht tun wird. Und unsere Botschaften sollten sich bemühen, diese Prozesse nicht zu verschlafen. Dazu gehört auch, dass sie interkulturelle Kontakte fördern, statt sie zu unterbinden.

"Wer behauptet, die Demokratie sei eine Voraussetzung für Wirtschaftswachstum und die Verbesserung der Volksgesundheit, läuft Gefahr, mit der Realität in Konflikt zu geraten." (Rosling 2018, 244)

Die Länder mit dem größten Wirtschaftswachstum waren in den vergangenen Jahrzehnten meist keine (vollwertigen) Demokratien. Die Demokratie ist ein hohes Gut, und ich möchte nicht in einem undemokratischen Land leben, aber die Demokratie ist kein Mittel zur Erreichung anderer Ziele wie Wohlstand und Gesundheit. Wir müssen die Demokratie um ihrer selbst willen anstreben, nicht weil sie uns anderweitige Vorteile bringt. Das Gleiche gilt für die Marktwirtschaft, sie ist kein Allheilmittel. Manche Aufgaben löst sie nicht, wie etwa eine breite allgemeine  Gesundheitsversorgung oder den Zugang zum schnellen Internet für die gesamte Bevölkerung. Dafür ist der Staat verantwortlich.

"Eine faktenbasierte Weltsicht kann man von den Medien nicht erwarten." (Rosling 2018, 256)

Sind also die Journalisten schuld? Würden wir mehr über die Welt erfahren, wenn sie besser ausgebildet wären? Wohl kaum; es ist ihre Aufgabe, uns zu unterhalten und zu interessieren, damit wir ihren Sender einschalten. In den seltensten Fällen täuschen sie uns, sie werden selbst getäuscht, nein, sie irren sich einfach. Und das wird sich kaum ändern. Es ist unser aller Aufgabe, uns gezielt woanders um Information und Fakten zu bemühen, das lässt sich nicht delegieren. Quellen gibt es genug, die UNO, UNICEF, die Weltbank, die OECD und viele andere Organisationen und Institutionen stellen Daten kostenlos bereit. Medien jedoch machen Geschichten, die sie verbreiten. Dazu sind sie da. Eine faktenbasierte Sicht der Welt können sie nicht vermitteln, weil das prinzipiell so nicht geht. Diese Sicht muss jeder sich mühsam erarbeiten, immer wieder aufs Neue.

"Die Frage muss also erlaubt sein, ob die Regierenden so wichtig sind." (Rosling 2018, 264)

Einer der großen Vorzüge des zähen Marathons der Regierungsbildung in Deutschland in den Monaten nach der Bundestagswahl von 2017 dürfte darin liegen, dass sich immer mehr Bürger gefragt haben, ob es überhaupt einen Unterschied macht, wer gerade regiert. Und ob überhaupt jemand regiert. Ich habe die Regierung keinen Augenblick vermisst. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, sind nicht die Regierenden in ihren skurrilen Limousinen, die so merkwürdig gleich aussehen, sondern die Krankenpfleger, Lehrer, Klempner, Verkäuferinnen, Buchhalter, Bankangestellten, Müllwerker, Polizisten, Ärzte, Juristen, Bademeister, auf die wir keinen Tag verzichten können. Die Helden des Alltags. Fähige und fleißige Menschen, Institutionen und Technologien verändern die Welt, nicht Mao oder Trump oder Merkel oder Putin. Wenn es sie nicht gäbe, würde die Entwicklung den gleichen Weg nehmen, weil sie das Werk einer Vielzahl von Menschen ist, die in Institutionen zusammenwirken. Regierende können Entwicklungen manchmal hemmen (Kuba, Nordkorea), aber selten fördern.

In der Zeitung von heute lese ich: "Es kommt immer auf die handelnden Personen an." Der Kommentar bezieht sich auf Kim Jong Un, der Friedenssignale sendet. Daneben ein Foto, das den "cleveren Kim" zeigt, wie er Moon Jae In umarmt. Ich würde meinen, es kommt oft auch auf die handelnden Personen an. Ganz besonders, wenn es um destruktive Handlungen und kurzfristige Effekte geht. Konstruktives Handeln ist weitaus stärker auf das Zusammenwirken vieler angewiesen. Gewiss kann man  fragen: Hätte die Geschichte nicht einen anderen Verlauf genommen, wenn eines der Attentate auf Hitler geglückt wäre? Meine Antwort: Möglicherweise hätte der Krieg in Europa früher beendet werden können und Millionen von Menschen wären gerettet worden. Möglicherweise. Aber aus der faktenbasierten Geschichte des zweiten Weltkriegs von Antony Beevor habe ich gelernt, dass Terror, Krieg und Völkermord in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts Folge großer Umwälzungen in vielen Ländern auf mehreren Kontinenten waren. Diese Prozesse waren nicht auf Europa und auch nicht auf einzelne Länder beschränkt. Die beteiligten Führungspersonen waren möglicherweise bis zu einem gewissen Grad austauschbar. Neben wirtschaftlichen Interessen spielten Ideologien wie Rassismus und Nationalismus, aber auch die Ideologie der totalen sozialen Gleichheit dabei eine zentrale Rolle. Diese Ideologien bestehen weiterhin und befeuern immer wieder neue ähnliche Bewegungen. Politische Führer sind ein Spiegel der Sehnsüchte und Ängste ihrer Gefolgschaft; die Gruppe wählt den Führer, nicht umgekehrt. Der Nationalist Trump bringt auf den Punkt, was viele Amerikaner denken und fühlen, dass Amerika an Bedeutung verliert. Die Faktenlage spricht dafür, dass die USA in der Tat ihre Führungsrolle einbüßen, wirtschaftlich und politisch. Das weckt Ängste und kränkt vor allem diejenigen, die ihren Selbstwert aus nationaler Größe beziehen. Aber dieser Prozess lässt sich nicht aufhalten, auch die USA werden global kooperieren müssen. Trump kann kann das nicht ändern, allenfalls ein wenig verzögern. Und was Kim Jong Un angeht, bin ich sicher, dass die chinesische Regierung am Drehbuch beteiligt war.

Wir sollten vor Nationalisten wie Trump oder Erdogan schon deswegen keine Angst haben, weil sie unwichtig sind. Sie haben keinen Einfluss, außer auf ihre pompösen Selbstinszenierungen. Ihre Macht kann einzelnen Menschen oder Gruppen schaden, zur Gestaltung der Welt reicht sie nicht. Wir sollten von den Heilsbringern und Lichtgestalten wie Macron aber auch nicht allzu viel erwarten. Wenn sie gut sind, lassen sie die Dinge geschehen, arbeiten mit anderen gut zusammen und pfuschen denen nicht ins Handwerk, die etwas von der Sache verstehen. Das gilt wohl auch für die Führung großer Unternehmen. Ob Volkswagen oder Deutsche Bank, kann man sich ein weniger kompetentes Management an der Spitze überhaupt vorstellen?  Und doch geht es irgendwie weiter, weil Zigtausende Beschäftigte und verantwortungsbewusste Manager das Unternehmen durch die Krise tragen, statt zu betrügen und sich zu bereichern. Die Medien erzählen uns spannende Geschichten über Politik und Politiker, über Wirtschaftsführer und Großmanager (wenn sie nicht gerade mit Fußball oder Metafußball beschäftigt sind), das meiste ist Klatsch und Tratsch, das zu verbreiten ist ihre Aufgabe. Aber diese Protagonisten spielen Theater, sie sind nicht Weltgeschichte. Was immer sie sagen, die Fakten ändern sich dadurch nicht. Katholische Päpste wettern als moralische Autoritäten seit Generationen gegen den Kondomgebrauch. Das Ergebnis: Katholiken benutzen genauso häufig Kondome wie Nichtkatholiken. Ihre Macht reicht nicht bis in die Schlafzimmer ihrer Gläubigen.

 

*Rosling, Hans (2018). Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Berlin: Ullstein